Transkript

In der Expertensprechstunde beantwortet Professor Dr. Alexander Gaiger Ihre Fragen und gibt Ihnen Tipps für ein gutes Leben mit chronischer lymphatischer Leukämie (CLL).

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Herzlich willkommen zu dieser Experten-Sprechstunde.

Mein Name ist Iris Herscovici. Ich bin eine der Gründerinnen von selpers.

Wir wollen uns heute mit einem Thema beschäftigen, das im Zuge von Diagnose und Therapie oft zu kurz kommt, nämlich die Lebensqualität. Und wir wollen uns ganz konkret anschauen, was Sie machen können, wenn Sie eine CLL diagnostiziert haben und etwas für Ihre Lebensqualität tun wollen.

Sie haben uns dazu sehr viele Fragen geschickt. Vielen Dank. Wir werden versuchen, sie alle zu beantworten. Und vor allem wird das der Herr Professor Gaiger.

Professor Alexander Gaiger ist Facharzt für Innere Medizin und Psycho-Onkologe. Er arbeitet an der Universitätsklinik Wien und ist dort unter anderem Programmdirektor für Psychosomatische Medizin und Psycho-Onkologie und auch für E-Health und Telemedizin. Und außerdem ist er Präsident der Österreichischen Akademie für Onkologische Rehabilitation und Psycho-Onkologie.

Hallo, Herr Professor Gaiger! Schön, dass Sie Zeit haben für uns.

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Hallo! Guten Tag. Freue mich, bei Ihnen sein zu dürfen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Schön. Bevor wir ins Thema einsteigen: Was ist denn so Ihre persönliche Definition von Lebensqualität?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Das ist etwas, das sich von Augenblick zu Augenblick ändert. Wie war Ihre Lebensqualität heute in der Früh, wenn Sie aufgestanden sind? Wie ist Ihre Lebensqualität, wenn Ihnen die Straßenbahn davongefahren ist? Wenn Sie einen Streit in der Familie hatten? Oder wenn Sie in der Wartezone in der Ambulanz auf einen Blutbefund warten?

Das ändert sich kontinuierlich. Das ist nichts Statisches, sondern etwas, das auch durch äußere Umstände stark beeinflusst wird, die oft gar nichts mit mir direkt oder auch nicht unbedingt mit meiner Krankheit zu tun haben.

Also so beeinflusst im Augenblick die COVID-Pandemie meine Lebensqualität, ohne dass ich direkt etwas jetzt damit zu tun habe in der Ursache oder auch im Verlauf.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Im Rahmen einer Krebserkrankung gibt’s ja viele Hoch-, aber vor allem auch Tiefpunkte. Und da ist die Psyche natürlich sehr gefordert mitunter.

Sie sind Experte für Psycho-Onkologie. Wie spielt denn die Psyche und eine Krebserkrankung zusammen? Beeinflusst die Psyche den Verlauf einer Krebserkrankung? Was sagt die Wissenschaft dazu?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Nun, zunächst einmal ist es so, dass Menschen, die von Tumorerkrankung betroffen sind, Außergewöhnliches leisten. Das, was sie während einer Immuntherapie, einer Chemotherapie körperlich leisten, ist vergleichbar mit dem, was Spitzensportler, Spitzenathletinnen leisten, wie eine Marlies Schild, wie ein Dominic Thiem, wie ein Hermann Maier, wie ein Marcel Hirscher oder jetzt wieder Vincent Kriechmayr. Das sind unglaubliche Leistungen. Und dann habe ich jetzt nur den körperlichen Aspekt, noch gar nicht die seelischen und sozialen Aspekte von Krankheit und Gesundheit bezeichnet.

Also das erste ist mal wichtig, dass Sie sich bewusst sind, dass das, was Sie tun, eine körperliche Spitzenleistung sind, dass Sie stolz sein können auf das, was Sie leisten.

Das Zweite ist, dass unser Umgang, unsere Bewältigung der Krankheit erschwert wird durch die eigenartige Rede, die wir darüber haben: Warum nennen wir diese Krankheiten „Krebserkrankungen“. Was bedeutet so ein Wort, eine „Krankheit“. Aber tatsächlich sind es über tausend verschiedene Erkrankungen. Allein bei den Lymphdrüsenkrebs-Erkrankung unterscheiden wir hundert Untergruppen, von denen eine die Chronische Lymphatische Leukämie ist. Und dann reden wir von gutartigen und bösartigen Zellen. Ich frage mich immer: Können Zellen überhaupt gut oder böse sein? Wie ich in Amerika war und wir über Tumorzellen gesprochen haben und ich meine Kollegen gefragt hätte: „Hey, here are the good cells, and here are the evil cells“, der hätte mich angeschaut und hätte gesagt: „Du, wovon sprichst du eigentlich? Das sind veränderte kranke Zellen. Aber das hat eigentlich nichts mit Gut und Böse zu tun.“

Und diese eigenartige Rede, die wir haben, erschwert den Umgang mit Krankheiten. Es ist eine moralisierende Sprache. Können Zellen gut oder böse sein? Ist das etwas, das in ihrer Entscheidungsgewalt wirklich liegt? Ist ein Jaguar, der einen Schimpansen isst, gut oder böse? Für den Schimpansen ist es eine negative Erfahrung. Aber der Jaguar kann sich das nicht aussuchen. Wenn er hungrig ist, macht er sein Ding. Ich habe noch keinen Jaguar getroffen, der sagt: „Nein, ich will kein Fleisch mehr essen. Ich werde jetzt vegetarisch mich ernähren und Zen-Buddhist werden.“ Den Jaguar gibt’s nicht. Und wenn ich einen veganen Jaguar träfe, dann wäre ich sehr skeptisch darüber.

Aber Zellen können weder gut noch böse sein. Und die Sprache erschwert den Umgang mit Krankheit. Oft fühlt man sich verantwortlich für die Krankheit. In unserer sehr leistungsorientierten Gesellschaft wird Krankheit schon als Versagen erlebt. Dabei ist es eigentlich eine ungewöhnliche, außergewöhnliche Belastung, für die wir von Natur aus nicht vorbereitet sind.

Wenn wir das Beispiel mit Spitzensportlern nehmen, so sind das junge Menschen, die sich vorbereiten, sich das ausgesucht haben, Ski zu fahren oder Fußball zu spielen. Und bei allem Respekt gegenüber Spitzenathleten: Es ist ein sehr überschaubares Spiel, ein Fußballspiel. Es gehört viel Ballgefühl und Training dazu. Aber die Grundregeln sind einfach. Und ich weiß ungefähr, was passieren kann. Ich habe ein Bauchgefühl, was passiert, wenn ich auf einem auf einem Sandplatz ausrutsche, wenn ich auf einem Schneefeld ausrutsche.

Ich habe aber kein Bauchgefühl, was eine Chemotherapie, eine Strahlentherapie, eine Immuntherapie bedeuten.

Und all das bewältigen Menschen mit Tumorerkrankungen.

  • Also eine unklare Diagnose, die schwer begreifbar ist.
  • Die Verunsicherung,
  • eine Therapie, auf die ich mich nicht vorbereiten können.

Also eigentlich leisten Menschen, die von Tumorerkrankungen betroffen sind, Außergewöhnliches.

Und diesen Menschen sagen wir dann: „Naja, aber vielleicht bist du schuld an dieser Krankheit. Was will dir die Krankheit sagen? Überlege einmal, hast du nicht etwas falsch gemacht in deinem Leben? Hast du zu viel oder zu wenig von diesem oder jenem gemacht? Zu viel Stress oder zu wenig Stress gemacht?“ Und dann überlegt man natürlich sagt man: „Aha, hm, was könnte das sein?“

Und wenn sie zurückblicken, dann werden Sie immer Dinge finden, die besser oder schlechter hätten laufen können. Fehler machen wir laufend. Das gehört zum Leben dazu. Und so beginnt man auf einmal so eine neue Theorie zu entwickeln, eine Geschichte.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Eine Unterstützung in so einer Situation, wenn man sich Fragen stellt und wenn man vielleicht auch psychisch belastet ist, kann der Psycho-Onkologe sein.

Jetzt können sich viele Menschen nicht vorstellen: Was macht ein Psycho-Onkologe eigentlich? Wer sollte Unterstützung bei einem Psychologen suchen, und wie funktioniert das Ganze, wenn man sich beraten lassen möchte oder Rat suchen möchte bei einem Psycho-Onkologen?

Wie ist da der Prozess?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Das erste ist, dass ein Psycho-Onkologe eher die Rolle eines Coaches hat. Und das, was ich so eingangs kurz ausgeführter ist eine der ersten Aufgaben, die sich uns stellen in der psycho-onkologischen Begleitung und Beratung, dass wir das, was so schwer verstehbar ist, nämlich die Krankheit und warum sie mich jetzt betrifft, begreifbar zu machen als das, was sie ist, nämlich eine Naturkatastrophe.

Und weil Sie vorhin gefragt haben, seelische Ursachen und wie die eine Rolle spielen in der Erkrankung: Sie spielen gar keine Rolle in der Entstehung von Tumorerkrankungen.

Wir sehen Tumorerkrankungen wie die Chronische Lymphatische Leukämie, wenn man will, als Naturkatastrophe, wie ein Erdbeben, wie ein Tsunami, aber nichts, was Sie durch Ihre Lebensweise hätten beeinflussen oder verhindern können.

Die Zellen der CLL sind sehr ähnlich den normalen B-Zellen. Und das, was sie unterscheidet, ist eigentlich nur, dass sie schwerhörig sind. Sie hören die Information nicht, die der Körper aussendet: „Ihr braucht euch nicht teilen“.

Das, was wir mit den Behandlungen heute durchführen, mit diesen zielgerichteten, personalisierten Behandlungen ist, diesen Zellen einen Hörapparat einzubauen, dass diese Information von der Zelloberfläche in den Zellkern geht.

Und das ist im Wesentlichen eine erste Aufgabe: Zuerst einmal das Normalisieren, das, was Ihnen begegnet als Betroffene, die Spannungen, die Stimmungsschwankungen, die Unsicherheit, dass das eine völlig gesunde Reaktion auf eine außergewöhnliche Situation ist.

Das Zweite: Die Mythen der Krebserkrankung aufzulösen in dem Sinne, dass immer dort, wo das Wissen aufhört, unser Gehirn Geschichten zu erzählen beginnt. Und das Wesentliche einer Geschichte ist, dass sie gut ist, nicht, dass sie wahr ist. Und so beginnen wir z.B. die Geschichte von der Krebspersönlichkeit zu erzählen.

Glauben Sie mir, ich mache seit 33 Jahren nichts anderes, als Menschen mit Tumorerkrankungen zu begleiten. Und das, was ich gelernt habe, ist, dass Menschen, die Menschen, die mir gegenübersitzen, die man Krebspatienten nennt, besonders gesund sind, Außergewöhnliches leisten. Sie haben gar nichts falsch gemacht.

Gehen Sie einfach davon aus, dass Sie gut sind, so wie Sie sind, und dass Sie alles richtig gemacht haben, und dass auch guten Menschen schlechte Dinge passieren können, und dass das, was Sie jetzt leisten, eine außergewöhnliche, herausfordernde Aufgabe ist, die Sie gut bewältigen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Ich würde da gern gleich anknüpfen: Gerade die Diagnose zieht den Menschen ja oft den Boden unter den Füßen weg und ist ein Schock. Was ist so Ihre Empfehlung für Patienten, die gerade mit einer Erstdiagnose konfrontiert sind? Was können die tun, um besser mit dieser Situation für sich zurechtzukommen?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Ich denke ja immer, dass die Reaktion auf so eine schlechte Nachricht natürlich immer eine Art von Krise darstellt. Und das ist eine an sich gesunde Reaktion. Es ändert sich etwas in meinem Leben. Ich kann schlechte Dinge nicht gutreden.

Das erste, was mir hilft, ist Rhythmus, Kontinuität, Wärme, Beziehung.

Das heißt: Wenn Sie sich vorbereiten und wenn Sie eine Verdachtsdiagnose haben, nehmen Sie einen nahen, Ihnen nahestehenden Menschen mit. Gehen Sie nicht allein durch diesen schwierigen Weg. Vier Ohren hören mehr als zwei Ohren. Man kann sich austauschen und auch vorbereiten. Also schon bei der Abklärung des Verdachtes ist es hilfreich, seinem Partner, Partnerin oder ganz enge Freunde mitzunehmen.

Dann zuhause zu überlegen: Was sind die wichtigen Fragen und sich gut vorbereiten auf dieses Diagnosegespräch. Und dann diese Informationen, die man hat, zu klären, Informationsmaterial einzuholen, sich auch mit Selbsthilfegruppen auszutauschen, Informationen zu haben. Das, was uns zunächst einmal ja betrifft, ist, dass wir viele Informationen bekommen, die mich überfordert zunächst, und das in einer bedrohlichen Situation. Und das Framing unseres Gehirns, der Rahmen unserer Wahrnehmung bestimmt, wie wir die Inhalte interpretieren. Wenn ich mich also bedroht fühle, werde ich unklare Informationen immer als noch bedrohlicher erleben.

Deswegen ist es so wichtig, dass man nicht alleine durchgeht, dass ich mich austauschen kann mit einem Partner und Partnerin und dass das, was unklar ist, geklärt werden kann.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Das war eine wunderbare Überleitung zu meiner nächsten Frage, weil die Patienten sind natürlich in erster Linie betroffen, aber nahestehende Menschen sind irgendwo auch mitbetroffen und manchmal auch hilflos.

Und in diese Richtung geht auch eine Frage, die wir bekommen haben: „Ein guter Freund ist an CLL erkrankt. Wie kann ich ihn am besten unterstützen?“

Was können Angehörige tun? Was können sie leisten? Oder was sollten sie tun?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Naja, es sind einmal zwei Aspekte: Wie kann ich als Freund, also als nahestehender Mensch helfen, und was macht es mit einer Familie?

Betroffen von dem, was wir Krankheit nennen, ist immer das System. Eine Familie ist ein System.

Sobald sich etwas bei mir ändert, ändert sich auch etwas im Leben meiner Frau, im Leben meiner Kinder. Also wenn jetzt die Mama auf einmal nicht mehr zuhause ist, sondern im Spital ist, eine Chemotherapie hat, werden die Kinder das spüren, dass sich etwas geändert hat, weil der Vater andere Funktionen übernimmt, vielleicht das ältere Geschwisterchen andere Funktionen übernimmt. Ich kann solche Neuigkeiten nicht nicht-kommunizieren. Es wird sofort wahrgenommen, und zwar als Bedrohung. Und je unklarer die Betroffenen bleiben, die Partner und die Angehörigen, desto schwieriger wird die Bewältigung.

Das heißt: Das erste ist einmal, dass ich die Angehörigen, Partner, Eltern, Kinder kompetent einbeziehe in den Prozess als Arzt, Ärztin, aber auch als Betroffener. Wenn ich eben die ganze Familie einbeziehe, dann kann es ein Netzwerk, eine Struktur werden, eine Hilfestellung werden. Wenn ich sie nicht kompetent einbeziehe, sind die auch bedroht, und es kommt zu einer Negativspirale. Also, das ist einmal der erste Schritt, dass wir wahrnehmen oder realisieren, dass betroffen von der Erkrankung das gesamte System Familie ist.

Das zweite ist, diese Familie kompetent einzubeziehen, dass alle im Wesentlichen auf dem gleichen Informationsstand sind. Inwiefern das zu erfolgen hat, entscheidet der Mensch, den wir Patient nennen. Das ist mein Vertragspartner. Weil, wenn er das nicht will, dann darf ich das nicht tun. Aber ich werde z.B. hinterfragen: „Warum wollen Sie nicht, dass Ihr Mann das weiß?“ Oder: „Warum wollen Sie nicht, dass Ihre sozusagen jugendliche 18-jährige Tochter weiß, dass Sie jetzt eine chronische Erkrankung haben?“ – „Na ja, ich möchte sie schonen.“ Sage ich: „Okay, das verstehe ich. Das ist ein guter Grund. Aber jetzt überlegen Sie. Überlegen Sie, Frau Maier, Ihre Mutter hätte eine Krebserkrankung. Und sie sagt Ihnen nichts. Sie geht durch die Therapie durch. Sie ist müde, erschöpft, angestrengt, und irgendwann, nach zwei, drei Monaten, erfahren Sie: Meine Mama hatte Krebs. Was macht das mit Ihnen? Was werden Sie spüren? Was macht es mit der Beziehung zu Ihrer Mutter?“

Ist das verstehbar? Das beeinflusst unsere Beziehung, dieses Schweigen. Also es gibt leider keine Möglichkeit, schlechte Nachrichten gut zu überbringen. Wir können sie nur rasch und präzise überbringen und dann in Kontakt bleiben. Das ist einmal die Familie.

Für die Partner, Freunde im weiteren Sinne erlebe ich eigentlich Alltäglichkeit, Normalität als wesentlich. Das heißt nicht schon: „Na, wie geht’s dir? Und geht’s dir schon besser?“ Und der andere denkt sich: „Naja, was soll ich jetzt sagen? Erstens ist die Frage, wie es mir geht, eine recht schwierige. Und wie sollte es mir besser gehen nach dem vierten Zyklus Chemotherapie. Nein, es geht mir eigentlich schlecht.“ Und das macht so viel Druck. Ich muss dann auch noch meine Freunde oder Bekannten entlasten.

Also eigentlich wäre das Wesentliche, dem Alltag Raum zu geben. Rhythmus, Struktur, Dinge, die mir Kraft tun, das nicht wegdängen, was nicht in Ordnung ist, aber auch dem Alltag Raum geben.

Das heißt, ein Teil meines Körpers ist krank, wenn ich betroffen bin. Aber viele Teile meines Körpers sind gesund. Und ich muss auch die gesunden Anteile unterstützen, damit sie den schwachen Anteilen aufhelfen können.

Und das kann ich als Freund, als Freundin tun in der Situation.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Bei einer Krebserkrankung gehen viele Patienten davon aus, dass man üblicherweise sofort auch eine Therapie bekommt. Jetzt gibt’s bei der CLL aber eine Option, die Watch & Wait heißt, wo die Patienten keine Therapie bekommen, sondern bewusst abgewartet wird.

Und wir haben sehr viele Fragen dazubekommen, weil man würde meinen, dass keine Therapie bedeutet, dass die Lebensqualität besser ist. Aber das macht etwas anderes mit der Lebensqualität der Patienten. Und viele wollen wissen: Warum wartet man ab? Kann man nichts versäumen?

Könnten Sie kurz erklären, was Watch & Wait ist und warum Watch & Wait bei CLL-Patienten angebracht sein kann?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Also erstens ist es ein Standardkonzept. Es ist sehr hilfreich, denn in der Regel ist es so, dass ein früher Behandlungsbeginn bei der CLL, wie gesagt, in der Regel, das muss man natürlich individuell entscheiden, keinen Vorteil bringt. Das heißt: Man hat die Nebenwirkungen der Therapie früher, aber keinen Überlebensvorteil langfristig gesehen. Das heißt: Das Ziel ist immer, den richtigen Zeitpunkt zu wählen für die Behandlung. Nicht zu früh und nicht zu spät. Das kann man im Gespräch mit dem behandelnden Arzt, mit der behandelnden Ärztin sehr gut klären.

Aber ein anderer Aspekt, so wie Sie das richtig sagen, es ist schwer verstehbar: „Ich habe da eine Tumorerkrankung, und niemand tut was. Normalerweise, wenn man hört: ‚Ich habe da einen Knoten‘, dann wird er rausgeschnitten, möglichst schnell. Und jetzt geschieht nichts. Und es geschieht schon seit einem Jahr nichts. Oder seit drei Jahren nichts. Oder nach fünf Jahren nichts. Oder auch zehn Jahre.“ Es kann manchmal viele, viele Jahre dauern, und wir benötigen gar keine Therapie. Und die Leute hätten auch keinen Vorteil von einer frühen Therapie.

Das ist das Besondere an der CLL. Das erste ist einmal das Bild der Erkrankung. Leukämie macht Angst. Nun, die Chronische Lymphatische Leukämie ist eine ganz besondere Erkrankung. Ich habe das am Eingang kurz erwähnt: Die Zellen sind nicht bösartig. Sie fressen den Körper nicht auf. Sie zerstören den Körper in der Regel nicht. Sondern sie haben ein Merkmal akquiriert, das die Informationsübertragung beeinträchtigt. Diese Zellen sie nicht böse, sie sind schwerhörig. Und sie hören einfach das Signal „Mädels, Burschen, ihr braucht euch nicht zu teilen“ nicht.

Das ist einmal ein wichtiger Aspekt. D.h.: Wenn es notwendig ist, können wir den Zellen einen Hörapparat einbauen, der diese Information verbessert.

Das zweite ist: Das Bild Watch & Wait ist unbefriedigend. Wer wartet schon gern? Keiner. Wenn ich eine halbe Stunde warte, stresst mich das. Aber noch schlimmer ist es, wenn ich warte und warte und warte, und ich weiß nicht, wie lang, und ich weiß auch nicht, worauf ich wartete. Das ist so ein bisschen wie das Warten auf Godot. Nur ist es viel, viel anstrengender. Das heißt: Ich muss definieren, auf was ich warte. Was sind die Symptome? Und was sind die Therapiemöglichkeiten? Das ist der eine Aspekt.

Und das andere: Ich muss nicht unbedingt warten. Der Alexander Hauswirth bei uns hat ein gutes Wort geprägt. Er hat gesagt: „Nicht Watch & Wait, sondern Watch & Train“. Das heißt: Sie haben die Möglichkeit, sich vorzubereiten, hinzutrainieren auf die Zeit, falls es wirklich überhaupt notwendig wird, eine Behandlung einzuleiten.

Das heißt, was Sie tun können ist, dass Sie sorgsam mit sich, mit Ihrer Beziehung mit dem Körper umzugehen, indem Sie schauen, dass Sie körperliches Training machen. Wir wissen, dass körperliches Training einen positiven Einfluss auf viele Formen von Tumorerkrankungen hat, direkt und indirekt.

Was heißt indirekt? Nun, wenn ich fitter bin, halte ich mehr aus. Also wenn ich das jetzt ganz einfach als Bild nehme: Ich bin ganz wacklig, habe wenig Muskelmasse und ich stürze, dann kann ein Knochen brechen. Wenn ich aber Muskelmasse habe und etwas fester trainiert bin, dann falle ich nicht auf meinen Knochen, sondern auf meinen Muskel. Dann kriege ich einen blauen Fleck. Es tut mir weh, aber es bricht nichts.

Das heißt: Wir haben die Möglichkeit, bei chronischen Erkrankungen durch eine gezielte Trainingstherapie den Körper zu kräftigen, zu unterstützen und dadurch auch beizutragen, dass die Therapie besser vertragen wird.

Möglicherweise, es gibt erste Daten bei Brustkrebs und Darmkrebs und auch bei Prostatakrebs, hat Sport auch einen Anti-Tumoreffekt. Bei der CLL wissen wir das nicht. Aber es ist eine Möglichkeit. Bei anderen Erkrankungen gibt es zahlreiche Studien, die dafür sprechen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Wir haben auch einige Fragen noch zu Watch & Wait bekommen, und ich würde Ihnen gerne die eine oder andere stellen, weil sie auch etwas angesprochen haben, was so ein wenig die Sorge der Patienten ist, nämlich es könnte etwas übersehen werden.

Und die Fragen sind so: „Besteht nicht die Gefahr, den Krankheitsbeginn zu übersehen? Bei mir wurde eine CLL diagnostiziert, aber nicht behandelt. Ab wann muss CLL behandelt werden? Und bei welchen Beschwerden oder Symptomen soll ich meinen Arzt informieren?“

Kann man das beschreiben? Was führt dann letztlich zu der Entscheidung: Jetzt sollte mit einer Behandlung begonnen werden. Wo ist dieser Punkt?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Ja, es ist wichtig, dass Sie wissen, dass es klare Richtlinien gibt, nach denen Ihr Arzt, Ihre Ärztin Sie informiert wird, wann eine Behandlung sinnvoll ist und wann sie durchgeführt werden soll. Da gibt es einen Ermessensspielraum. Und es gibt eine Reihe von Symptomen, die dazu herangezogen werden, Algorithmen, nach denen man das berechnen kann. Das eine ist:

  • Wie schnell steigen die weißen Blutkörperchen an? Das ist die Leukozyten-Verdoppelungszeit.
  • Besteht eine Blutarmut, eine Anämie?
  • Kommt es zu einem Abfall vom Blutplättchen?
  • Sind die Lymphknoten plötzlich vergrößert?
  • Drücken sie?
  • Tun sie weh?
  • Beeinträchtigen sie Organfunktion?
  • Gibt es Autoimmun-Phänomene?

Ich liste jetzt nur eine Reihe von Beschwerden auf, auf die Ihr behandelnde Arzt, Ihre behandelnde Ärztin aber schauen wird, automatisch. Das wird im Rahmen der Routine-Untersuchungen erhoben. Und man kann dadurch sehr gut sehen: Ist alles stabil? Gibt’s einen langsamen Anstieg der Leukozyten oder ist das etwas das schneller? Und danach wird man Sie informieren über die Notwendigkeit oder die Empfehlung zugunsten einer Therapie.

Die Entscheidung erfolgt immer gemeinsam.

Und die Kunst besteht darin, nicht zu warten, bis es den Betroffenen schlecht geht, sondern rechtzeitig zu behandeln, wenn es mir noch gut geht, aber eine klare Behandlungsindikation vorliegt. Das ist das Wichtige dabei.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Wir haben vorher Patientenstimmen gehört, die ein wenig verunsichert waren über die Entscheidungen, die ihr Arzt oder ihre Ärztin trifft, und wir haben auch einige Fragen bekommen in Richtung zweite Meinung: „Wie können Patienten vorgehen, wenn sie eine zweite Meinung einholen wollen?“ Und ist das überhaupt sinnvoll?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Ja absolut. Zweite Meinung — hören Sie, werden ich eine Waschmaschine kaufe, hol ich mir zwei Kostenvoranschläge an. Wenn ich eine Krankheit habe, frage ich auch meine Freunde befreundeten Kollegen. Also das erscheint mir als etwas Selbstverständliches. Es ist in vielen Ländern auch Standard, das zu empfehlen.

Und wenn jemand ein Problem mit einer Zweitmeinung hat, dann hat er ein Problem. Aber nicht Sie als betroffener Patient.

Also holen Sie sich Zweitmeinungen ein.

Das Wichtige ist, dass sie an kompetenter Stelle eingeholt werden. Das heißt: Für eine CLL, für die Behandlung, Therapieentscheidungen und das Management der CLL sind primär die Zusatzfachärzte für Hämatologie zuständig. Das heißt: Sie schauen einfach nach Kriterien, nach Qualitätskriterien. Ist das jemand, der ein Internist und ein Zusatzfacharzt für Hämatologie, Onkologie ist und in diesem Gebiet Erfahrung hat? Dann gehe ich zu dem hin und hole mir eine zweite Meinung.

Sie haben ein Recht darauf, Ihre Befunde zu erhalten. Die bekommen Sie.

Und wenn mich ein Patient danach fragt, sage ich: „Selbstverständlich, hier haben Sie alles. Hier sind ein paar Zentren, wo ausgewiesene ausgezeichnete Hämatologen zur Verfügung stehen. Oder Sie haben über die verschiedenen Selbsthilfegruppen Möglichkeiten, Kontaktinformationen zu bekommen.“

Und das ist eigentlich eine sehr gute und sehr wichtige Sache, weil im Notfall brauche ich oft keine zweite Meinung. Aber wenn etwas über längere Zeit geht und es verschiedene Therapien und Behandlungsmöglichkeiten gibt, dann hilft mir das. Und in Amerika war das Standard. Wir haben das den Patienten empfohlen. Die haben das auch automatisch gemacht. Und ich denke, dass es ein wichtiger Teil ist in unserer Beziehung, dass man das offen gestaltet und sagt: „Hier haben Sie die Unterlagen. Holen sich ruhig eine zweite Meinung ein. Hier ist unsere Behandlungsempfehlung. Hier ist die Empfehlung unseres Tumorboards. Das haben Sie schriftlich, klar als Konzept vorgelegt. Und rühren Sie sich, wenn sich sozusagen schlau gemacht haben. Und dann stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung weiter.“

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Solange die Patienten in einer Therapie sind, sind sie auch in einer gewissen Struktur. Wenn die Therapie abgeschlossen ist, dann sind sie irgendwo mehr auf sich selbst gestellt. Dazu haben wir auch eine Frage bekommen, und die Frageeinerseits: „Gibt es Empfehlungen, was Patienten nach der Therapie tun sollten?“, und die ganz konkrete Frage: „Im August 2014 wurde bei mir CLL festgestellt. Bis 2019 war ich unter Kontrolle. Dann gingen meine Laborwerte ständig in die Höhe. Das MRT ergab vergrößerte Lymphknoten im Bauchraum. Am Ende der Therapie waren die Werte im Normbereich, und das MRT ergab normalen Befund. Ich bin 82 Jahre, weiblich. Kann ich außer Kontrollen noch weiteres tun?“

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Als zuerst einmal gratuliere ich Ihnen zu dem, was Sie bereits alles geschafft haben. Das ist vielleicht so als erster Teil der Antwort — das, was mich immer wieder überrascht: Da haben wir Menschen, die sechs Monate oder noch länger um ihr Überleben kämpfen, in einer schwierigen Situation, für die wir von Natur aus nicht ausgestattet sind. Und am Ende der Therapie sagen wir: „Super, toll, jetzt hast du es geschafft. Und jetzt kommst du in einem Monat oder drei Monaten wieder, und wir machen die Nachsorgekontrolle.“ Und während der Mensch dann noch überlegt: „Naja, also es ist natürlich toll, dass ich es geschafft habe, aber was habe ich geschafft? Und wenn ich’s geschafft habe, wieso muss ich dann wieder in einen Monat oder drei Monaten zur Kontrolle kommen?“ Da kommen schon die Freunde und sagen: „Na super, toll, jetzt hast du es geschafft. Und geht’s dir schon besser?“, und man selber überlegt und sagt: „Eigentlich nicht…“ Und dann: „Naja, aber dann musst du natürlich irgendwas tun. Das kann ja nicht sein, dass es dir nicht besser geht. Da musst du jetzt homöopathische Globuli nehmen oder zu den Schamanen am Wolfgangsee trommeln gehen. Auf jeden Fall irgendetwas hast du falsch gemacht, und musst jetzt noch was tun. Bist nicht gut, so wie du bist.“

Wenn wir jetzt Fußballspieler nehmen, um wieder diesen Sportvergleich zu nehmen, dann haben Sie da 18-, 20-, 22-jährige Burschen oder Mädels, die sich den Sport ausgesucht haben, die trainieren, die ungefähr wissen, was passieren kann. Und wenn man solche Fußballspieler nimmt, dann sieht man, dass sie am Ende der Turniersaison erschöpft sind, und zwar wirklich erschöpft. Man kann das messen: Sie laufen nicht mehr so schnell, die Passgenauigkeit sinkt, die Verletzungsgefahr steigt an. Das ist eine völlig normale Situation, dass Sie nach 4, 5, 6 Monaten Hochleistung erschöpft sind, die Batterien leer sind. Das sehen Sie bei Tennisprofis. Das sehen Sie bei Bergsteigern. Das sehen Sie in jeder Sportart. Und da ist es ganz normal, dass man sagt, oder dass der Trainer sogar am Ende der Saison, vielleicht einmal des Turniers einige Schlüsselspieler rausnimmt oder nur in bestimmten Situationen einwechselt, um die Verletzungsgefahr zu reduzieren. Da ist es völlig normal, dass man sagt: „Na, kein Wunder, na du bist jetzt gerade vom Mount Everest oder vom Nordpol zurückgekommen. Natürlich bist du erschöpft. Und jetzt musst du dich erholen. Runtertrainieren, hast einen Coach, der begleitet dich dadurch.“

Aber Menschen, die Tumorerkrankungen haben, die sich nicht vorbereiten können, die auf einmal aus dem Alltag rausfallen, die in einer fremden Umgebung zwar sehr liebevoll unterstützt werden, aber trotzdem die anstrengende Chemotherapie haben, die wir uns einfach nicht gut ausmalen können, denen sagt man nach sechs Monaten Überlebenskampf: „Super, toll, jetzt hast du es geschafft, und jetzt lass es dir von alleine bessergehen.“

Das ist seltsam. Und das geht auch nicht von alleine. Das heißt: Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass Sie nach so einer anstrengenden Therapie das machen, was auch andere gesunde Menschen machen: mal sich erholen, die Belastungen einmal absinken lassen, dann oft, wenn ich aus der akuten Lebensgefahr draußen bin, realisiere ich erst, was ich da alles erlebt habe, was ich da alles durchgemacht habe. Dann spüre ich erst oft die Schwere, die Erschöpfung, die Traurigkeit über das, was sich da geändert hat in meinem Leben. Und da ist es wichtig, eine Begleitung zu haben. Das kann die Psycho-Onkologie auch leisten. Aber nicht nur. Ein ganz wichtiger Aspekt ist eine körperliche Trainingstherapie, Kraft-, Ausdauer-, Gleichgewichtstraining, Beratung, wieder Vertrauen in den Körper finden, Rhythmus der Untersuchung der Nachkontrollen. Das alles gibt mir Sicherheit.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Sie haben vorher die Bewegung angesprochen.

Wie weit beeinflusst denn ein gesunder Lebensstil die Lebensqualität noch? Bewegung, haben Sie gesagt. Welche Art von Bewegung sollten CLL-Patienten machen? Wie fängt jemand an, der eigentlich nicht besonders trainiert ist und sein Leben lang nicht so viel Bewegung gemacht hat und sich jetzt bewegen möchte? Was tut man da?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Ja, wie sonst: Langsam, Schritt für Schritt. Ich werde, wenn ich vorher keinen Sport gemacht habe, oder das ist mir selberpassiert: Im Sommer sagen meine Söhne: „Komm, Vater, geh mit uns trainieren.“ Und ich trainiere mit ihnen, bin ganz stolz, dass ich da auch so viel machen kann, und dann mache ich es am zweiten Tag auch noch, und am vierten Tag geht es mir schon ganz schlecht — weil ich übertrainiert habe, weil ich einfach das nicht gewohnt bin.

Das heißt: Sie gehen es langsam an. Sie beginnen einmal Alltagsbelastungen. Sie besprechen das mit Ihrem behandelnden Arzt. Der wird schauen, wie Ihre Blutwerte sind, wie das Hämoglobin, die Blutplättchen sind, ob es irgendwelche Gründe gibt, Vorsichtsmaßnahmen, gewisse Einschränkungen im Trainingsprogramm vorzunehmen. Aber im Wesentlichen können Sie im Alltagsbereich gut trainieren. Das heißt, dass Sie Stiegen steigen, vor allem bergauf, nicht bergab, weil bergab belastet es mehr die Gelenke. Und zwar mit gesunden Hausverstand — nicht übertrainieren. Dass Sie zunächst einmal spazieren gehen, dann schneller spazieren gehen oder Nordic Walken, dass Sie pulskontrolliert trainieren z.B. Aber zuerst in einem moderaten Bereich, und dann erst in Ihrem Trainingspulsbereich. Auch das sollte mit ärztlicher Absprache erfolgen oder mit einem Physiotherapeuten.

Wir haben wunderbare onkologische Rehabilitationsprogramme sowohl ambulant als auch stationär, wo Sie sehr gut unter Anleitung und auch mit einem Kostenersatz durch die Sozialversicherung versehen angeleitet werden, wie Sie entsprechend trainieren.

Das Training hat viele Aspekte:

  • Zum einen Krafttraining, dass Sie Muskelmasse aufbauen,
  • Ausdauertraining, das ist für Herz-Kreislauf und Lunge wichtig und hat auch einen möglicherweise unterstützenden Effekt bei der Bewältigung der Krebserkrankung,
  • und der Sensumotorik, Gleichgewichtstraining, das gegen Nebenwirkungen der Chemotherapie wie Polyneuropathien, das ist dieses bramsige Gefühl anFingerspitzen, Fußsohlen z.B. hilft,
  • ein Geruchs-Geschmackstraining, das gegen Ihre Geschmacksbeeinträchtigung durch die Chemotherapie helfen kann.

Also, es gibt ganz viele Aspekte, wo Sie Anleitungen in klar definierten Programmen, die von der Pensionsversicherung wirklich ausgezeichnet aufgesetzt wurden, umsetzbar sind.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Es gibt ja manche CLL-Patienten, die Probleme mit den Gelenken haben, Sie haben es auch angesprochen. Wenn Patienten Gelenksbeschwerden haben oder Schmerzen haben, was sollten die speziell beachten, oder können die auch Bewegung machen? Wie sollen die tun?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Sie sollen sogar Bewegung machen. Also das, was wir alle gelernt haben, war: „Du hast Schmerzen. Du bist krank. Schon dich. Tu nichts.“ Und wenn Sie einmal zwei Wochen im Bett gelegen haben, dann werden Sie etwas bemerken: Es tut Ihnen alles weh. Warum? Also ein banaler Grund, da gibt es viele Gründe, ist, dass wenn Sie eine langdauernde Therapie haben, Muskelmasse abgebaut wird, d.h. Sie kommen in eine sogenannte katabolen Stoffwechsellage, das ist ein gescheites Wort für „auf ein Notstromaggregat umstellen“. Der Körper realisiert, Sie als Mensch realisieren: Es ist eine Gefahrensituation. Sie aktivieren alle Energie, die Sie haben. Das macht der Körper. Er stellt Energie bereit. Das führt aber dazu, dass ich in Kombination mit einem Bewegungsmangel jetzt beginne, Muskelmasse abzubauen. Das ist so, wie wenn Sie einen Gips haben: Da merken Sie, dass Sie so nach ein paar Tagen schon zum Wackeln beginnen. Warum? Weil die Muskelmasse sehr schnell abgebaut wird. Es dauert blöderweise sehr lange, bis sie wieder aufgebaut wird. Aber das kann man tun. Das heißt, was passiert? Das erste ist, dass ich durch die Behandlung, durch die Krankheit und durch unser angelerntes Verhalten: „Schon dich. Sei vorsichtig. Warte. Lass dich verwöhnen.“ — alles gut gemeint, ist aber manchmal nicht sehr hilfreich. Dazu kommt die katabole Stoffwechsellage durch die Erkrankung, das heißt das Notstromaggregat, auf das wir im Überlebenskampf zurückgreifen, und die Nebenwirkung der Therapie.

Das alles führt zum Abbau von Muskelmasse.

Schauen Sie mal jetzt unsere Ski-Rennläufer an und Rennläuferinnen. Schauen Sie mal die Oberschenkel von denen an. Das sind solche Waden, die die haben. Warum? Weil das Kniegelenk durch die Muskulatur gehalten wird, nicht durch die Bänder. Bei der Belastung reißen die Bänder.

Das heißt: Wenn Sie Muskelmasse abbauen und immer weniger Muskelmasse haben, dann wird das Gelenk wieder mehr durch die Bänder gehalten. Und das, was Sie spüren an Schmerzen ist oft ein Schmerz, der durch die zu große Beweglichkeit der Wirbelsäule, der Gelenke entsteht durch den Abbau an Muskelmasse.

Das heißt: Es ist weder eine Krankheit noch eine Folge von Schwäche, sondern nur eine Folge dieser Notstromaggregat-Stoffwechsellage. Das heißt: Das erste, was Sie tun, ist, dass Sie kontinuierlich ein ganz moderates Training machen, auch unter Therapie. Sie können unter einer Tumortherapie ein moderates Training machen, in Absprache mit Ihrem Arzt, am besten unter Anleitung von Physiotherapeutinnen. Aber das geht. Und das Ziel dieser moderaten Therapie ist nur, den Abbau an Muskelmasse etwas zu verlangsamen, zu vermindern, vielleicht sogar, dass man da halbwegs stabil bleibt bzw. was ich vorhin gesagt habe: Statt „Watch & Wait“, was in Wirklichkeit heißt „Watch & Worry“, d.h. ich warte und bin immer besorgter. Worauf warte ich jetzt? Und da kommen unklare Informationen. Und dann interpretiere ich das immer noch bedrohlicher. Zu „Watch & Train“: Was auf mich zukommt, darauf bereite ich mich vor. Ich trainiere mich hin wie auf einen Wettkampf, wie auf eine Prüfung, wie auch sonst in unserem Leben wir uns vorbereiten. Wenn ich tauchen will, mache ich einen Tauchkurs. Wenn ich klettern will, gehe ich zum Alpenverein. Und wenn ich eine Tumorerkrankung habe, bereite ich mich vor, was da auf mich zukommt. Und das können Sie tun, und das hilft Ihnen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Ein anderer Aspekt von Lebensqualität ist die Ernährung. Und wir haben sehr viele Fragen auch bekommen in diese Richtung, vor allem: Was kann ich essen? Kann ich etwas tun, um mein Immunsystem zu stärken durch die Ernährung? Was macht Sinn? Was empfehlen Sie CLL-Patienten, was sie mit der Ernährung auch noch für sich und für ihre Lebensqualität tun können?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Naja, also das ist immer der Wunsch, dass ich etwas selberbeitragen möchte. Jetzt ist eines Fakt der, das Sie nicht schuld sind an Ihrer Krankheit. Sie haben sie nicht verursacht. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Normalerweise, wenn ich was mache, dann fühle ich mich schuldig, dann muss ich etwas gutmachen. An der Krankheit sind Sie nicht schuld. Das ist eine Verkettung von Zufälligkeiten.

Und was Sie tun können, ist zum einen mal, dass Sie ein bisschen liebevoller mit sich umgehen können. Sie haben nichts falsch gemacht. Aber wenn man noch etwas dazu machen will, wir sind ja nicht umsonst so alt geworden. Also da gehört schon ein weniges dazu, mein Leben zu leben. Und wir sind so, wie wir sind, weil es einen hinreichenden Grund dafür gibt. Sonst wären wir nämlich anders. Und die meisten Menschen, die ich erlebe, sind eigentlich sehr gut so wie sie sind. Zumeist.

Also, was können Sie tun neben dem Sport, der Bewegung, Kraft-, Ausdauer-, Gleichgewichtstraining? Das ist Ernährung. Sehen Sie sich als Sportlerin. Sie brauchen eine ausreichende Ernährung. Sie sollen keine einseitige Diät halten. Es kursieren viele, viele Arten von Tumordiäten, die eigentlich magischen Ritualen ähneln und manchmal sogar gesundheitsschädigend sind. Worauf Sie achten, ist eine ausgewogene Ernährung, in der Sie vor allem Obst und Gemüse, sofern Sie das gut vertragen und keine Unverträglichkeiten haben, reichlich zu sich nehmen, tierische Fette reduzieren. Zu den tierischen Fetten gehören aber auch Milch und Molkereiprodukte, Käse, die alle als gesund ansehen. Die sind auch gesund. Aber die Dosis macht das Gift. Also wenn Sie einen Liter oder zwei Liter Milch trinken, ist das einfach zu viel. Also mit Maßen Molkereiprodukte, tierische Fette reduzieren, eine ausgewogene Ernährung. Aber keine einseitige Diät halten. Das ist so wie mit den Abnahme-Diäten: Das macht man 3 Wochen, 4 Wochen, leidet, nimmt ab, und dann ein halbes Jahr später hat man das Gewicht wieder zugenommen.

Also es ist eine Balance von einigen Maßnahmen:

  • Das erste ist Bewegung, in Bewegung kommen. Wenn ich den Körper bewege, bewege ich die Seele.
  • Die Ernährung: Das, was ich da aufnehme, das lasse ich mich hinein. Wir sind ja auch sonst sehr vorsichtig, wen ich an mich heranlasse, wie nahe ich jemand an mich heranlasse. Das können wir beim Essen auch machen, dass wir da sorgsam umgehen, aber eher in dem Sinne, dass es biologisch zubereitete, ökologisch verträgliche Massen sind. Nicht unbedingt alles, was von einem Ende der Welt zum anderen Ende der Welt geschifft wird, regionale, saisonale Küche pflegen, all die Dinge, die wir auch sonst eigentlich beachten.

Aber Sie brauchen keine spezielle Diät haben. Es kursiert z.B. die zuckerfreie Ernährung. Das ist nicht sehr bekömmlich. Das ist nämlich ein Energiebaustein, den wir benötigen. Sie können während der Chemotherapie ruhig eine Sachertorte mit Schlag essen. Das ist überhaupt kein Problem. Aber vielleicht nicht jeden Tag. Das ist dann zuviel Fett. Und genauso mit dem Schweinsbraten. Den können Sie schon essen. Aber essen Sie halt wirklich nur am Sonntag und nicht eine große Portion. Und wenn Sie mal viel Obst und Gemüse essen, dann wird Ihnen das viel besser schmecken als das, was wir sonst so zu uns nehmen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Wir reden jetzt viel über Lebensqualität. Aber wenn im Augenblick über medizinische Fragen geredet wird, kommt man natürlich auch an der Corona-Impfung nicht vorbei. Da haben wir jetzt auch einige Fragen dazu bekommen, die ich Ihnen gerne stellen würde. Und so als Grundtenor war mal die Frage im Raum: Gibt es schon Erfahrungen, was die Impfung für CLL-Patienten betrifft? Gibt’s da auch schon gewisse Erkenntnisse?

Und es gibt da auch einige Fragen, nämlich grundsätzlich: „Gibt es schon Erfahrungen, wie die Corona-Impfung bei CLL-Patienten wirkt und ob sie darauf ansprechen?“

Aber vor allem auch: Gibt es etwas, das CLL-Patienten bei einer Impfung beachten sollten? Also: Kann ich mich in der Watch & Wait-Phase impfen lassen? Hat die Therapie einen Einfluss auf die Impf-Empfehlung? Und ist eine Impfung nach einer Stammzell-Transplantation möglich?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Also im Wesentlichen: Impfen ist gut, und Impfen ist wichtig. Wir empfehlen seit vielen Jahren unseren Patientinnen, ob sie CLL oder andere Tumorerkrankungen haben, sich impfen zu lassen, schon einmal gegen die Standard-Impfungen, die Grippeimpfung, die jährlich fällig ist. All das wird empfohlen.Wir haben damit nur gute Erfahrungen bis jetzt gemacht.

Allerdings, und das ist wichtig: Bitte besprechen Sie das mit Ihrer behandelnden Ärztin. Warum? Es gibt selten Immundefekte, Immunglobulin-Mangelzustände, andere Umstände, wo man sagt: „Jetzt ist vielleicht nicht der ideale Zeitpunkt, sich impfen zu lassen. Warten wir ab.“ Aber in der Mehrzahl der Fälle ist eine Impfung klar zu empfehlen. Aber sie sollte immer in Rücksprache mit dem Arzt durchgeführt werden. Nicht weil ich mich jetzt davor drücken will, sondern weil es viele Aspekte gibt, die man beeinträchtigen muss.

Wie lange nach einer Chemotherapie oder wie lange soll die Chemotherapie zurückliegen, um mich impfen zu lassen? Da gibt’s unterschiedliche Meinungen. Meistens kann man sich sehr rasch nach einer Chemotherapie impfen lassen.

Nach einer Stammzell-Transplantation: Unbedingt mit dem Therapieteam und mit dem Behandlungsteam Rücksprache halten. Warum? Weil man natürlich zuerst einmal schauen muss, wie die Immunglobuline, wie das Immunsystem sozusagen sich rekonstituiert, wiederhergestellt hat nach der Stammzell-Transplantation. Danach kann man impfen. Wir impfen grundsätzlich unsere Patienten nach der Stammzell-Transplantation. Wir schauen sogar: Besteht ein Impfschutz, z.B. nach autologen, also nach den Stammzell-Transplantation mit dem eigenen Stammzellen? Wie viel von dem vorhergehenden Impfschutz ist noch vorhanden? Welche muss ich wieder auffrischen? Also wir schauen aktiv danach, welche Impfungen durchgeführt werden sollen und können und machen das gemeinsam mit dem Patienten, mit dem Betroffenen einen Impfplan.

Im Wesentlichen: Impfungen sind absolut zu empfehlen. Sie sind ein Segen. Meiner persönlichen Ansicht nach einer der größten Fortschritte der Neuzeit sind Impfungen. Und ich bin eigentlich überrascht, dass wir bereits nach einem Jahr mit all den negativen Aspekten der COVID-Pandemie, so ist doch etwas bemerkenswert daran: Dass wir in dem einem Jahr es geschafft haben, zu wissen, welche Art von Erreger dieses Krankheitsbild verursacht, den Erreger zu isolieren, den Erreger nachweisen zu können mit verschiedenen Testsystemen, Schutzmaßnahmen, wie Abstand halten und Maske zu tragen und Händedesinfektion zu etablieren, die nachweislich sinnvoll und wichtig sind, und einen Impfstoff zu entwickeln. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Und jetzt auch mehrere Impfstoffe zur Verfügung zu haben. Das ist meiner Meinung nach einer der größten Erfolge der Menschheitsgeschichte.

Wir fokussieren uns immer auf das, was nicht funktioniert. Und das ist wichtig. Das ist gut. Es ist kein Fehler. Das ist so, wie wenn wir Steinzeitmenschen sind und in der Nacht einen Säbelzahntiger hören. Da werden wir uns auf den konzentrieren und nicht auf all das, was wir Gutes haben. Das macht schon Sinn. Aber wir sollten schon mit bedenken oder es wird uns eigentlich sehr stolz machen können, wenn wir sehen, was da alles möglich ist. Es geht uns immer zu langsam. Aber wir sind auf dem richtigen Weg.

Impfungen sind ein Segen. Es werden weder Chips noch irgendwelche anderen Dinge implantiert durch eine Impfung, sondern Ihr Immunsystem angeregt. Es ein sehr biologisch natürliches Therapieverfahren, weil Ihre eigene körpereigene Antwort wird stimuliert. Und eine Kollegin von uns im AKH hat das so schön dargestellt, es hat mir sehr gut gefallen. Sie hat gesagt: „Schauen Sie, wenn Sie sich impfen lassen, dann kriegen Sie ein kleines Stück von diesem ganzen Virus-mRNA-Stück hinein. Vielleicht 30 Mikrogramm. Das bleibt 7,8, 9 Tage im Körper. Aber wenn Sie die Infektion mit COVID haben, dann haben Sie das ganze Stück mRNA, unkontrollierte Millionen und millionenfachen Weise exprimiert, und das über lange Zeit neben all den Beschwerden.“ Also der Vergleich kann einen eigentlich sicher machen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Sie haben gerade angesprochen, dass Corona auch durchaus einiges in Bewegung gebracht hat, und so auch die Telemedizin. Sie sind ja Programmdirektor für E-Health und Telemedizin. Was können CLL-Patienten denn da an telemedizinischer Betreuung in Anspruch nehmen? Wie läuft so was ab? Wo sollen sich Patienten hinwenden, wenn sie Telemedizin in Anspruch nehmen wollen?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Wir haben über die letzten sechs Jahre ein EU-Forschungsprojekt an unserer Med-Uni Wien an der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Gynäko-Onkologie durchgeführt, das eSmart-Projekt, wo wir über lange Zeit Patienten unterstützt haben.

Das, was Telemedizin kann, ist zum ersten einmal die räumliche Distanz überwinden. Ich muss nicht immer zwei Stunden vom nördlichen Waldviertel nach Wien fahren, um mit meinem Arzt zu sprechen. Wenn man sich überlegt, was das bedeutet an Aufwand: Ich habe die Anreise, dann warte ich in der Ambulanz, wenn es Winter ist, habe ich Angst, dass ich mich anstecke. Dann fahre ich wieder zurück. Und das Ganze vielleicht für 5 oder 10 Minuten. Das heißt: Das erste, was Telemedizin kann, ist die räumliche Distanz zu überwinden.

Das zweite ist, dass es Datenschutz-konform Ihre persönlichen Daten sicher verwaltet in einer ELGA, in einem eigenen geschützten Bereich ablegen kann.

Und das dritte ist, dass wir gut ausgestattet sind von Natur aus, um unser Leben zu kämpfen. Also unser Gehirn kann Gefahren, die es sieht, gut erkennen. Das ist der Säbelzahntiger. Das ist der Löwe. Das ist vielleicht der Gegner. Das ist die zwielichtige Gestalt, die mir entgegenkommt. Aber wenn Sie jetzt an die Corona-Pandemie denken: Dinge, die wir nicht sehen, können wir nicht gut wahrnehmen. Unser Gehirn greift dort auf sogenannte Heuristiken zurück. Also das ist, wir haben das, in Universum war dieser schöne Beitrag mit den Gnus und dem großen Fluss mit den vielen Krokodilen drinnen. Die Gnus müssen auf der anderen Seite des Flusses kommen, weil dort die saftigen Weiden sind. Und die Weiden, von denen sie kommen, sind trocken. Sie haben gar keine Alternative. Sie müssen durch den Fluss. Die Krokodile haben das aber bemerkt in den letzten Jahrzehnten und warten da schon auf den Festschmaus. Und die Gnus haben diese Eigenschaft, das sind tausende Gnus, die gemeinsam durch den Fluss gehen: „Mich wird es schon nicht erwischen.“ Und dann gehen sie hinein und stürzen sich den Fluss. Doch das stimmt. Für die Gnus war das ein Vorteil dieser Heuristik: Mich jetzt schon nicht erwischen. Die ganze Herde ist gerettet, und einige hat es leider erwischt. Das ist in der Steinzeit noch ein guter Mechanismus gewesen. Aber bei einer Pandemie ist das kein guter Mechanismus, „Mich es schon nicht erwischen…“. Es kann bereits eine kleine Gruppe von Leuten, die meinen, sie müssen unbedingt jetzt während der Pandemie nach Südafrika fliegen, die gesamte Gruppe gefährden. Und dann kann man das ethisch diskutieren, welches Recht wichtiger ist. Das ist dann eine Diskussion. Aber ob das eine gute Idee ist, das wage ich zu bezweifeln.

Das heißt: In Krisensituationen greifen wir auf solche Heuristiken zurück. Und das ist nicht hilfreich. Und Telemedizin hilft evidenzbasiert, mich zu steuern. Es ist, wenn Sie so wollen, wie ein Navigationssystem im Auto. Oder wie ein Plotter beim Segeln. Oder wie ein Transponder in der Flugsicherung. Es werden kontinuierlich Daten, die Sie freigeben, die Ihnen gehören als Patienten, übermittelt. Und so können Sie sich orientieren: Wo bin ich jetzt? Wie Sie meine Blutwerte. Ich kann mich austauschen. Diese Telemedizin 3.0, diese fortschrittliche Telemedizin macht solche Verläufe ersichtlich. Sie vermisst das. Sie gibt Ihnen Orientierungshilfe und auch Ihrem Arzt. Sie müssen nicht alles zehnmal sagen, wie stark die Schmerzen sind, weil die sind schon in den Computer drinnen. Ich kann das sehen. Und wir beide können uns das dann am Smartphon gemeinsam anschauen und sagen: „Okay, so sind jetzt diese Werte. Was können wir tun?“ Während ich sonst in der Ambulanz 90 Prozent meiner Zeit verwende, zum dritten Mal zu fragen, wo es Ihnen wehtut, wie stark das ist, seit wann das ist, wo es noch wehtut. Das sind wichtige Fragen. Aber da brauchen wir nicht unbedingt unsere Zeit darauf verwenden. Das können Sie sehr gut selbst, das nennt man dann „patient reported outcome measurements“,selbst eingeben. Und das hilft uns, unsere Zeit wieder dem, was so wichtig ist in der Medizin, nämlich der Begegnung zwischen den Menschen zu widmen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Das heißt, Patienten können sich das aber nicht einfach wünschen, sondern es hängt eher davon ab, in welchem Krankenhaus Sie behandelt werden, ob dort schon telemedizinisch gearbeitet wird, ob sie so etwas dann in Anspruch nehmen können? Weil es kam auch die Frage: „Kann man sich da einfach irgendwo anmelden?“ Nein, das geht nicht, sondern es hängt vom Spital ab.

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Nein, das geht leider noch nicht. Meistens wird unter Telemedizin einfach so Tele-Konsultationen mit Telefon oder Videokonferenz gemeint. Das ist allerdings nicht sehr hilfreich und nicht einmal besonders zielführend, weil hier sehr viel Information unkontrolliert übertragen wird.

Was wir eigentlich wollen, ist wirklich wie bei einem Transponder, wie ein Navigationssystem, dass Sie genaue Orientierungshilfen bekommen, genau definierte Datensätze übertragen werden.

Das gibt’s jetzt bei uns in Abteilung für Hämatologie im AKH, wo Sie dann sozusagen mit dieser Applikation, das ist ein Medizinprodukt, ausgestattet werden und dann in Kontakt mit dem Betreuungsteam sein können.

Das ersetzt und soll und wird niemals den Kontakt zwischen Pflegefachkräften und Patienten, Ärztinnen und Patientinnen ersetzen, sondern es soll ihn nur erleichtern, Administration von den Ärzten und Pflegeteams wegnehmen und ihnen eine gute Darstellung der Symptome und der Beschwerden geben.

Man hat eine Lernerfahrung. Wir haben das genau untersucht durch eine große Studie, den eSmart Trial, wo wir zeigen konnten, dass dieser Einsatz dieser modernen Telemedizin-Werkzeuge entängstigend wirkt, einen Lerneffekt hat. Ich sehe ich bekommen, z.B. wenn ich Beschwerden habe, zu Hause und ich gebe ein: „Ich habe jetzt eine Entzündung im Bereich der Mundschleimhaut.“ Dann bekomme ich Hinweise: Was kann ich selber tun dafür? Von Käsepappeltee, Emsersalz, Salbeiteegurgeln, was immer jetzt sinnvoll ist, hin zu körperlicher Trainingstherapie, Telerehabilitation: Ich muss nicht immer 2 Stunden fahren. Sie haben eine erektile Dysfunktion durch den Stress der Krankheit, ich kann eine sexualmedizinische Beratung durchführen. Ich habe eine Belastungsreaktion, ich kann eine Traumatherapie durchführen. Man kann sozusagen wirklich die Dinge, die man braucht, telemedizinisch nach Hause ins Wohnzimmer bringen in meine Komfortzone.

Überlegen Sie: Wenn ich in meiner Wartezone im Spital sitze, ich denke mir immer, da muss ich schon ziemlich gesund sein, um das auszuhalten. Es stresst mich, es belastet mich, und ich möchte eigentlich schnell weg. Und das ist ein schwieriger Rahmen, um eine gute therapeutische Begegnung zu ermöglichen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Wir sind aber auch schon mehr oder weniger am Schluss der Experten-Sprechstunde.

Eine letzte Frage: Wenn Sie so einen Tipp geben sollten Patienten und Patientinnen mit CLL, was sie für ihre Lebensqualität tun können, für die Verbesserung oder wie sie überhaupt in sich hineinspüren können, was für sie Lebensqualität bedeutet. Was wäre dieser Tipp?

Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Gaiger:

Schauen Sie, ich gehe wieder kurz zu dem Beispiel mit Sportler. Der fährt am Hang runter, da stehen ein paar Stangen, und er fährt toll runter, und alle sagen im Ziel: „Super, toll, du hast das ganz toll gemacht.“ Dann steht man am Stockerl, er kriegt die Medaille, er gibt Interviews. Alles ist super.

Wer macht das bei Ihnen? Niemand. Jeder sagt nur: „Mei. Und was könnte noch sein? Das musst du noch tun. Andauernd ist etwas, was wieder belastet.“ Also der erste Schritt wäre: Jeden Morgen klopfen Sie sich dreimal auf die Schultern sagen: „Das habe ich echt gut gemacht.“ Das ist nämlich wirklich nicht leicht, was Sie tun.

Und auch das Bild der Erkrankung nochmal: Ein Teil des Körpers ist erkrankt. Bei der CLL ist es die Schwerhörigkeit der Zellen eigentlich. Viele Teile sind gesund. Das ist so wie beim Garten: Das wächst und gedeiht, dem ich Raum gebe, dem ich Licht gebe, dem ich Nahrung gebe. Achten Sie auf das, was funktioniert, auch was gut ist. Und dort holen Sie die Kraft auf. Wenn ich selber schwach beieinander bin und ich möchte jemanden aufhelfen, der am Boden liegt, kann ich das nicht gut. Wenn ich kräftig bin, kann ich das besser. Nehmen Sie auch wahr, was Sie alles gut machen, was gut funktioniert und stärken das und versuchen damit zu helfen, dem was schwieriger ist. Und manche Dinge können wir auch nicht ändern. Die können wir nur ertragen.

Fr. Dr. med. Iris Herscovici:

Das war ein hilfreiches Schlusswort. Ich wollte gerade sagen „ein ganz wunderbares Schlusswort“. Aber der letzte Satz ist natürlich wahr, nicht wunderbar, aber wahr.

Vielen herzlichen Dank für die Zeit, die Sie sich genommen haben.

Danke, dass Sie dabei waren.

Diese Sprechstunde wurde aufgezeichnet. Sie können sie sich auf selpers.com in Ruhe nochmal ansehen. Sie finden dort auch verschiedene Patientenschulungen rund um das Thema Lebensqualität bei Krebs.

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Ich wünsche Ihnen alles Gute. Kommen Sie gut durch diese bewegte Zeit. Danke, dass Sie dabei waren und bis zum nächsten Mal.

Auf Wiedersehen

Experten-Sprechstunde: Gute Lebensqualität bei CLL

18.02.2021 | 18.00 Uhr

Die Diagnose Chronisch Lymphatische Leukämie (kurz CLL) wirft viele PatientInnen aus der Bahn. Neben der medizinischen Betreuung stehen nach der Diagnose Fragen rund um den Alltag und ein gutes Leben mit CLL im Vordergrund. Was versteht man unter „Watch and Wait“? Wie kann ich den Krankheitsverlauf als PatientIn positiv beeinflussen?

Aber auch die Covid-19-Pandemie wirft Fragen auf. Welche telemedizinischen Möglichkeiten gibt es für CLL PatientInnen? Worauf sollte ich in der Pandemie achten und wie kann ich mich am besten schützen?

In der Expertensprechstunde beantwortet Professor Dr. Alexander Gaiger Ihre Fragen und gibt Ihnen Tipps für ein gutes Leben mit CLL.

Vortragender

Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger

Univ.-Prof. Dr.
Alexander Gaiger
Facharzt für Innere Medizin und Psychoonkologe

Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger ist Facharzt für Innere Medizin und Psychoonkologe. Er ist Programmdirektor am Comprehensive Cancer Center der Medizinischen Universität Wien und leitet die Abteilung für onkologische Rehabilitation im Lebens.Med Zentrum Bad Erlach.

Kostenlos und ohne Anmeldung

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